Die Dritte Generation
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Schatten auf den Dächern
Die Nacht war ein breiter, dunkler Rücken, auf dem die Stadt atmete. Über den Ziegeln zog ein Wind, der nach feuchtem Metall roch und nach dem fernen Salz der Flussluft, die zwischen Gassen und Schornsteinen hängen geblieben war. Schröder stand auf dem First wie ein eingesteckter Nagel und ließ die Welt durch seine Schnurrhaare wandern. Er hörte die müden Gebisse der Dachrinnen und das heisere Husten eines alten Schornsteins; irgendwo in der Tiefe scharrte eine Maus, die glaubte, niemand bemerke sie. Normalerweise war das genug: Geräusche wie ein altes Lied, dessen Takte er kannte. Aber in diesen Nächten lag etwas zwischen den Tönen, ein dünnes, gespanntes Seil, über das Schritte liefen.
Er setzte eine Pfote vor die andere, tastend, sicher, und glitt zum Rand hinüber. Unten, auf der Mauer zum Hof, glänzten im schrägen Laternenlicht Kratzzeichen: drei Striche, ein Haken, Punkte. Zu ordentlich, zu sauber, zu sehr wie ein Gedanke mit Kanten. Schröder legte die Ohren an. Revierzeichen waren sonst krumm, ungeduldig, sie sagten: Hier, ich. Diese hier sagten: Wir.
Schröder hob den Kopf. Der Wind brachte Gerüche von weither: trockene Erde, Laugenbrezeln, fremdes Fell, das nicht nach Zuhause roch.
Ein Schatten löste sich von der Dachkante gegenüber und wurde zur Katze. Fauja trat ins blasse Licht, ohne Geräusch, als habe die Nacht selbst sie hergebracht. Ihre Streifen lagen so exakt, als wären sie in das Fell hineingedacht worden. Sie nickte Schröder zu, nicht ehrerbietig, nicht fordernd; eher so, wie man einem alten Baum zunickt, an dem man sich orientiert.
„Du bist wach“, sagte sie.
„Wenn andere schlafen, ist meine Arbeit leichter“, brummte Schröder. Seine Stimme hatte die Rauigkeit von Sand auf Ziegeln. „Und seit einigen Nächten schnarcht die Stadt nicht mehr durch. Sie redet im Schlaf.“
Fauja folgte seinem Blick zu den Zeichen. Sie blieben einen Augenblick stumm, als lauschten sie beide auf dieselben unsichtbaren Fäden, die heute durch alles liefen. Dann sagte sie: „Die Felllosen haben die Hand auf allem, was raschelt. Sie nennen das Fürsorge. Für uns ist es ein Deckel.“
Schröder blinzelte. Er hatte mit verschlossenen Worten gerechnet, mit dem zarten Schubs, den Junge gern geben, wenn sie Ältere provozieren wollen. Doch Fauja sprach wie jemand, der den Deckel gesehen hatte – von unten.
„Die alten Geschichten laufen seit jeher über die Dächer“, antwortete er vorsichtig. „Heute meint jeder Schatten, er sei ein Geheimnis. Morgen ist er nur ein Schatten.“
„Und doch“, sagte Fauja, „machen die Felllosen die Welt klein. Sie fegen uns aus den Vorräumen, fegen uns aus den Kellern, fegen uns aus den Hinterhöfen. Sie nennen es sauber – und meinen: unter Kontrolle. Wir schlafen in Kartons, die uns gehören, bis jemand entscheidet, dass der Karton in den Müll gehört. Sie halten Türen zu und nennen das Sicherheit. Sie rufen uns beim Namen und vergessen, dass wir Namen schon hatten, bevor sie uns riefen.“
Schröder blieb reglos. Die Worte waren keine Rätsel, sie waren Steine. Sie fielen ihm nicht auf den Kopf – noch nicht. Aber er hörte, wie sie auf den Ziegeln rollten.
„Du magst deine Fensterbank,“ fuhr Fauja fort, ohne Spott, nur nüchtern. „Ich nenne das das bequeme Loch in der Wand. Wärme ist schön, Schüsseln sind schön. Aber wenn die Schüssel dich ruft, bevor du Hunger hast – gehört der Hunger noch dir? Wenn die Fensterbank dich hält, wenn der Wind nach Ferne riecht, wem gehört dann dein Weg?“
„Wind riecht jeden Abend nach Ferne“, sagte Schröder. „Und jeden Morgen riecht er nach nassem Hof. Ich nenne das Leben.“
„Ich nenne das Leine ohne Band“, entgegnete Fauja ruhig. „Du spürst sie nicht, solange du nicht ziehst.“
Die Ziegel knirschten leise, als Schröder sein Gewicht verlagerte. In der Ferne ratterte ein Lieferwagen über Kopfsteinpflaster, eine dieser rollenden Futterkisten, wie Luna sie nannte. Ein Rabe saß wie ein Tintenfleck auf einem Kaminsims und sah zu ihnen herüber – der gleiche Rabe, der am Nachmittag die Luft aufgerissen hatte wie Papier.
Schröder schnaufte. „Du sprichst, als hättest du eine Rechnung mit den Felllosen“, sagte er. „Aber morgen früh wird ein Kind dich rufen, und du tust so, als verstündest du es nicht.“
„Ich tue nicht so“, sagte Fauja. „Ich verstehe es. Ich wäge ab. Ich kenne Wärme – und Hunger. Die Hand, die streichelt – und die, die die Kiste schließt. Türen, die schützen – und Türen, die einsperren. Du auch, Schröder. Du bist ein Hofkater ohne festen Napf. Du hast gesehen, wie Freiheit hungrig macht.“
Er legte den Kopf ein wenig schief. Im Licht sah sein Narbenohr aus wie ein umgeknicktes Blatt. „Freiheit“, knurrte er, „hat kalte Stellen. Und nasse. Und Stacheln in den Pfoten. Ich würde sie niemandem wegnehmen. Aber ich würde sie auch nicht verschenken wie ein Stück Fleisch.“
Fauja nickte, als hätte sie genau diese Antwort erwartet. „Es gibt nicht nur zwei Schüsseln“, sagte sie. „Nicht nur warm oder wild. Es gibt Wege zwischen den Wegen. Manche von uns legen sie seit Jahren. Andere glauben, sie wären nur Kratzer im Putz.“
Schröder warf einen Blick hinunter auf die Zeichen. Drei Striche, Haken, Punkte. Wege zwischen Wegen. Er erinnerte sich an eine Nacht, in der die Luft genauso roch: nach Regen, der noch nicht gefallen war. Seine Muskeln spannten sich unwillkürlich, als würde die Erinnerung sich an ihnen festhalten.
„Als ich jung war“, begann er langsam, „gab es eine Katze auf dem Dach der Wäscherei. Sie trug die Jahre im Fell wie Asche. Sie hatte eine Stimme, die nicht laut werden musste. Wir kamen aus allen Ecken, wir Jungen mit den hellen Augen, wir Alten mit den stumpfen. Sie machte solche Zeichen, nur unordentlicher, und flüsterte: Nicht immer in geraden Linien gehen. Sie sprach von Felllosen, die schreiben konnten, ohne Worte zu machen, und von Katzen, die lesen konnten, ohne zu zählen. Sie sagte, es gäbe eine Zeit, in der wir nicht mehr so tun müssten, als wären wir still. Ich habe sie angesehen und gedacht: Vielleicht ist sie verrückt. Vielleicht hat sie Hunger. Vielleicht hat sie recht.“
„Und?“ fragte Fauja leise.
„Sie verschwand“, sagte Schröder. „Ein Mann mit einer Kiste sprach freundlich. Ihre Augen wurden klein wie Stecknadelköpfe, als er das Gitter zuschob. Er roch nach Tierarzt. Seitdem habe ich gelernt, meine Nächte ohne Versprechen zu verbringen.“
Fauja schwieg. Der Rabe krächzte, als räuspere er sich in einer Debatte. Unter ihnen bewegte sich etwas. Drei Schatten, dann zwei, dann drei wieder, als hätten die Ziegel einen Rhythmus.
Aus einer Regenrinne stiegen zwei schlanke Katzen wie aus einer Falte der Nacht. Ihre Bewegungen waren rund, ihre Blicke hart, als hätten sie keins von beidem bemerkt. Sie blieben vor den Zeichen stehen, schnupperten, scharrten, ergänzten einen Punkt. Einer von ihnen trug den Geruch einer Werkstatt: Öl, Eisen, der feine Schmerz von Metallspänen in den Pfotenballen. Der andere roch nach grasiger Ferne und nach Mülltonnen, die nicht immer freundlich sind.
„Heute nicht“, flüsterte der Ölige. Es war kein böses Flüstern, vielmehr die weiche Seite eines Befehls. „Wir warten, bis die Taschen der Felllosen wieder voll sind. Am Markttag. Mehr Taschen, mehr Unordnung.“
„Unordnung ist gut“, antwortete der Grasige, fast andächtig.
Schröder fühlte, wie ein Trockenschnurren zwischen seinem Brustbein und der Zunge stecken blieb. Er hätte herunterfahren, sich zeigen, Fragen sichten können. Doch er blieb, wo er war, ein Stück Dach über manchen Köpfen, und ließ sein Schweigen schwer und sichtbar werden.
„Wird das hier noch geheim bleiben?“ fragte er Fauja.
„Nur so lange, wie die Mauern glauben, niemand liest sie“, sagte sie. „Und so lange, wie die Fensterbänke warm sind.“
Die beiden unten zogen weiter, leiser als die Ratte, die sie zu überhören versuchten. Das Zeichen blieb; es glitzerte im Licht wie etwas, das keine Eile hat.
„Du kannst runtergehen“, sagte Schröder rau zu Fauja. „Du bist jung genug, um Fragen zu stellen, ohne Antworten zu fürchten.“
„Du bist alt genug, um Antworten nicht zu trauen“, entgegnete sie freundlich. „Ich komme nicht, um dich zu bekehren. Ich komme, um dich wach zu halten.“
„Wach bin ich“, brummte er. „Wachen ist mein Handwerk.“
„Dann stell dir nur diese Frage“, sagte sie und trat zurück in den Schatten, der sie fast wieder verschluckte: „Wenn heute Nacht alles ein wenig lauter wirkt – ist es die Gefahr, die wächst, oder nur dein Ohr, das endlich den Takt wiederfindet?“
Sie war weg, und die Nacht schloss sich um die Stelle, an der sie gestanden hatte, als wäre dort nie etwas gewesen. Schröder blieb allein mit seinem Fell, das langsam wieder glatt wurde, und mit der Stadt, die über ihm murmelte wie eine Katze, die träumt und halb weiß, dass sie träumt.
Er ging die Dächer ab, bis sein Körper die Wege nicht mehr dachte, sondern tat. Er sah auf Terrassen, wo leere Stühle warteten, als würden die Menschen nachts irgendwo verhandeln und tagsüber so tun, als wären sie nur müde. Er sah in Fenster, in denen blaue Lichter flimmerten und Gesichter unruhig waren, obwohl die Hände still hielten. Er sah in Hinterhöfe, die in der Dunkelheit größer wirkten, weil Grenzen nachts weich werden. Und überall, wo er hinsah, fand er Kratzzeichen. Nicht nur hier, nicht nur drei Striche, Haken, Punkte. Andere, eiligere, ungeduldige, wieder zurückgestrichene, als hätten zwei Pfoten sich gestritten.
Die Stadt schrieb nachts in ihrer Sprache an die Wände. Und er, Schröder, las wie einer, der nur die Hälfte versteht, aber in der Hälfte den Rest ahnt.
Als die Fühler der Dämmerung in den Himmel stiegen und die Kanten der Häuser milder machten, kehrte er zurück. Der Hof lag da wie ein Napf, der noch nicht gefüllt war. Die alte Felllose würde gleich kommen, mit Wäschekorb und morgendlichem Summen. Minka lag auf der Fensterbank, zusammengekringelt, das Gesicht halb im Vorhang. Rufus war in eine Ecke gerutscht, in der die Wärme von der Steinmauer aufstieg. Und irgendwo, wo sie nicht gesehen werden wollte, schnurrte Luna im Schlaf und übte, schneller hinter einer Feder her zu sein, als die Feder hinter ihr.
Schröder sprang vom Dach in die Nähe der Mauer und landete ohne Laut. Er blieb einen Atemzug stehen, um den Hof nicht zu erschrecken. Dann räusperte er sich, so leise man sich räuspern kann, wenn man eine Katze ist.
Minkas Ohr wippte. Sie löste sich aus der Wärme, gähnte, und die Zunge kam hervor wie eine kleine rosige Fahne. „Guten Morgen, Hof“, murmelte sie, mehr zu sich als zu ihm. Dann sah sie ihn und wurde wach im Blick. „Du siehst aus, als hättest du die Nacht angezogen.“
„Die Nacht passt mir“, sagte Schröder. „Sie weiß, wie man Raum lässt.“
Minka streckte die Vorderpfoten, eine nach der anderen, als würden sie sich erinnern, dass sie Pfoten waren. „Hast du wieder Zeichen gesehen?“ fragte sie, ohne Überheblichkeit, eher als wüsste sie, dass manche Dinge nur in der Nacht erscheinen, weil sie das Tageslicht nicht mögen.
„Zeichen“, sagte Schröder, „und Katzen, die sie lesen. Katzen, die glauben, dass Lesen Handeln ist.“
Minka rutschte ein Stück zur Seite, genug Platz für ihn auf der Fensterbank zu lassen, als wäre das ihre Art, einen Stuhl hinzustellen. Schröder sprang hinauf und spürte unter dem Bauch das alte Holz, das die Sonne gestern gewärmt hatte und das die Nacht nicht ganz hatte auskühlen lassen.
„Fauja war bei mir“, setzte er fort. „Sie redet nicht mehr in Wolken. Sie redet davon, dass die Felllosen die Hand auf der Welt halten wie eine Pfote auf einer Maus. Sie fragt, wem unser Hunger gehört, wenn die Schüssel ruft, bevor wir ihn spüren. Sie sagt: Türen sind nur freundlich, solange du nicht gegen sie drückst.“
Minka legte den Kopf schief. Ihre Augen wurden nicht misstrauisch, sondern weit; sie sah bei solchen Sätzen nicht auf die Worte, sondern durch sie durch, als schaue sie auf das, was dahinter lag.
„Und du?“, fragte sie. „Was hast du geantwortet?“
„Ich habe gesagt: Freiheit hat kalte Stellen“, brummte Schröder. „Und ich habe mich erinnert.“
Er erzählte Minka von der alten Katze auf dem Dach der Wäscherei, von der Nacht, die die Welt dünn gemacht hatte, so dünn, dass man durch sie hindurch die Möglichkeit eines anderen Morgens sah. Er erzählte von der Kiste mit dem Gitter und von der freundlichen Stimme, die eine Lüge war. Er erzählte ohne Dramatik, so wie man einen Stein an den Rand legt, damit man ihn sieht, bevor man stolpert.
Minka hörte zu, ohne einzuhaken, und in ihrem Zuhören lag der Hof: Raum, der nicht drängte, aber da war. Als er fertig war, rieb sie das Kinn an der Kante der Fensterbank, als würden Worte festhängen und sie bräuchte eine Kante, um sie zu lösen.
„Freiheit“, sagte sie leise, „ist für mich manchmal das kleine Rechteck Sonne auf dem Holz. Nicht, weil es klein ist - sondern weil ich mich selbst hineinlege. Nicht, weil eine Hand mich hinsetzt. Ich nenne das mein Freiheitsmoment.“
„Und wenn die Sonne weiterzieht?“ fragte Schröder.
„Dann gehe ich mit“, sagte Minka. „Oder ich bleibe. Die Wahl ist der Teil, der warm ist. Die Sonne ist nur… Gelegenheit.“
„Die Wahl“, wiederholte Schröder, und das Wort schmeckte wie ein Knochen, an dem noch Fleisch ist. „Ein Hofkater hat viele Wahlen. Er wählt jeden Abend einen anderen Wind, er wählt jeden Morgen einen anderen Schatten. Und doch…“ Er sah nach oben, wo der Himmel jetzt die Farbe von kalter Milch hatte. „Und doch wählt man viel, wenn man nichts hat. Wenn man viel hat, wählt man wenig. Vielleicht ist das, was die Felllosen uns geben: wenig Wahl, dafür viele weiche Dinge.“
Minka nickte, als denke sie nicht über ihn nach, sondern mit ihm. „Die alte Felllose da drinnen“, sagte sie, „gibt mir Leckerli, wenn ich so tue, als verstünde ich, was sie sagt. Manchmal tue ich es nicht, und sie gibt mir trotzdem eines, weil ich alt bin und sie denkt, ich werde sonst traurig. Ist das Unfreiheit? Manchmal fühlt es sich an wie…“ Sie suchte ein Wort, fand keins und schnurrte kurz. „Wie gegenseitiges Zähmen.“
„Zähmen ist ein langes Band“, brummte Schröder. „Du hast genug Fell, um es nicht zu spüren. Ich weniger. Und die, die nachts auf den Dächern Zeichen machen, die haben keins, das warm ist. Für sie ist jedes Band eins zu viel.“
„Und was wollen sie?“ fragte Minka. „Fauja – und die schlanken, stillen mit den harten Blicken.“
Schröder hob die Schultern, was bei ihm aussah, als würde ein Haus die Last umverteilen. „Sie sagen nicht was. Sie sagen dass. Dass etwas beginnt. Dass man Türen nicht zu lange ansehen soll, ohne sie zu testen. Dass unser Fell zu weich geworden ist von Handrücken. Ich weiß nicht, ob sie Recht haben. Ich weiß nur: Als ich jung war, war eine Nacht wie diese. Und am Morgen war eine Katze weniger da.“
Die Tür der Wohnung ging auf. Die alte Felllose trat in den Hof mit dem Wäschekorb und dem Summen, das sie auf den Lippen trug wie einen Schal. Sie sah Minka, und ihr Gesicht wurde weich wie Brotteig. Ein Leckerli wanderte auf die Fensterbank, als hätte es dort schon immer gelegen und nur kurz einen Spaziergang gemacht. Minka hob es mit der Selbstverständlichkeit einer Königin auf, die Geschenke nicht ablehnt, weil das unklug ist.
„Wach bleiben“, murmelte Schröder, eher zu sich. „Aber nicht alles glauben, was die Nacht sagt.“
Minka knabberte und sah ihn an. „Wach bleiben“, wiederholte sie, „und sich nicht schämen, wenn man etwas Warmes mag. Ich kann beides.“
Sie schob ihm das zweite Bröckchen hin, das die alte Frau verlegen unter den Vorhang geschoben hatte, als hätten die Jahre ihr einen geheimen Humor geschenkt. Schröder schnupperte daran, als wäre es eine Frage. Dann nahm er es. „Ich kann auch beides“, brummte er. „Ich kann wach sein und essen.“
„Und nachdenken“, ergänzte Minka.
„Nachdenken mache ich nachts“, sagte Schröder und sprang wieder auf die Mauer. „Tagsüber tue ich so, als wäre ich nur Katze. Das beruhigt die Welt.“
„Die Welt ist gern beruhigt“, sagte Minka, „bis sie es nicht mehr ist.“
In der Gasse draußen quietschte ein Fahrrad, und ein Hund bellte einmal, beleidigt, weil die Luft ihm keinen Grund gegeben hatte. Rufus räkelte sich und stieß mit dem Rücken gegen den Eimer, in dem die alte Felllose Basilikum zog; der Eimer klapperte, als hätte er eine Meinung. Luna stürzte aus dem Nichts herbei, großäugig, federleicht. „Habt ihr den Raben gehört?“ rief sie, halb flüsternd, halb trichterlaut. „Er hat gelacht! Also nicht gelacht, aber… ihr wisst schon.“
„Raben lachen nicht“, knurrte Schröder. „Sie kommentieren.“
„Er hat also kommentiert“, sagte Luna sofort. „Wahrscheinlich mich. Ich habe im Traum einen Fisch gefangen, und er war aus Pappe. Ist das ein Zeichen? Sind wir jetzt in einem Zeichenmeer?“
Schröder sah sie an, und etwas in ihm wurde weicher. „Nicht alles ist ein Zeichen, Kätzchen“, sagte er. „Manches ist nur Pappe.“
„Aber vieles ist auch mehr als Pappe“, mischte Minka sich sanft ein. „Das ist das Schwierige.“
Luna sprang auf die Fensterbank und maß mit ihrer Pfote das Sonnenrechteck, das gerade langsam hereinwanderte. „Freiheitsmoment“, sagte sie plötzlich, als hätte sie das Wort irgendwo gehört, aufgeschnappt und jetzt zurechtgelegt. „Wenn die Sonne kommt und ich entscheide, ob ich mitschwimme.“
„Mit der Sonne kann man nicht schwimmen“, belehrte Rufus, der inzwischen wach war und seine Würde sortierte. „Man kann nur so tun, als sei man zufällig dort, wo sie ist. Alles andere sieht bedürftig aus.“
Minka schnurrte. „Bedürftig sein ist keine Schande“, sagte sie. „Aber es ist gefährlich, wenn man es vergisst.“
Schröder blickte zum Himmel. Die Laternen waren jetzt aus, und die Wolken sahen aus wie zusammengerollte Katzen in einer sehr großen Schüssel. Die Kratzzeichen auf der Mauer wirkten im Tageslicht kleiner, harmloser, ein bisschen wie Spiel. Doch er wusste, dass manche Dinge bei Sonne schrumpfen, ohne aufzuhören zu wachsen.
„Hör zu, Minka“, sagte er dann, leiser, nur für sie. „Es wird mehr werden. Mehr Zeichen, mehr Stimmen, mehr… Bewegungen. Du magst deine Rituale. Ich mag meine Runden. Beides steht auf einer Waage, die keiner von uns sieht. Wenn einer anfängt, Gewichte zu verschieben, wackelt der Napf. Und die Schüsseln fallen schnell.“
Minka antwortete nicht sofort. Sie sah auf ihre Pfote, in deren Fell ein Sonnenfaden hängen geblieben war, als sei er dort zu Besuch. „Wenn die Schüssel fällt“, sagte sie schließlich, „kann man entweder unter ihr begraben werden – oder man trinkt die Milch, die ausläuft. Vielleicht ist das Freiheit: schnell genug zu sein, um zu trinken, ohne zu treten.“
„Schnell genug, ohne zu treten“, wiederholte Schröder, und das gefiel ihm, auch wenn er das nicht zeigte. „Und vorsichtig genug, um sich nicht die Schnurrhaare zu verkleben.“
„Das passiert nur einmal“, sagte Minka trocken. „Dann lernt man.“
Die alte Felllose klatschte in die Hände und lachte über etwas, das das Radio gesagt hatte. Das Lachen blieb einen Atemzug im Hof hängen, ehe es in die Ritzen kroch, wo es wie warmer Dampf weiterwehte. Der Basilikum roch nach Sommer, obwohl ein Wind von der Straßenseite her schon die ersten frühen Blätter aufscheuchte, die vorgaben, sie hätten sich nur verirrt.
„Ich gehe nochmal rauf“, brummte Schröder und sprang auf die Mauerkrone. „Wenn die Nacht dir eine Frage stellt, brauchst du den Tag, um sie zu verstehen. Und manchmal stellt der Tag die gleiche Frage anders.“
„Bring mir eine Antwort mit, wenn du eine findest“, sagte Minka. „Und wenn du keine findest, bring mir die Frage. Ich lege sie auf die Fensterbank. Manches wird beim Liegen freundlich.“
Er schnippte ihr mit dem Schwanz gegen die Schulter – die Katze-Version eines Lächelns – und verschwand, ein Schatten, der wieder zu den Schatten zurückfand. Oben auf den Dächern blieb die Kühle länger als unten, und die Ziegel fühlten sich unter seinen Pfoten an wie Bücher, die niemand laut vorliest. Er umrundete zwei Schornsteine, schnupperte an einem Rinnstein, in dem ein Käfer langsam einen See überquerte, der für andere nur ein Tropfen war.
Er fand neue Zeichen, dünner, gedrängter – als hätte eine jüngere Pfote weniger Geduld gehabt. Er fand alte, überkratzte – als hätte eine ältere Pfote bereut. Er fand an einer abgebröckelten Stelle ein Stück Kreide, weiß, wie es die Felllosen ihren Kindern geben, damit sie auf Asphalt Wolken malen, die man wegfegen kann. Jemand hatte versucht, Kreidezeichen zu machen, und aufgegeben, weil Kreide die falsche Sprache ist, wenn man Pfoten hat.
Auf einem der höheren Dächer saß der Rabe wieder und sah aus, als gehörte ihm ein Stück der Aussicht. „Krah“, sagte er, was auf Rabisch alle Fragen und die meisten Antworten abdeckte.
„Krah“, sagte Schröder zurück, der es nicht mochte, unhöflich zu sein. Der Rabe neigte den Kopf, als würdige er die Mühe, und flog davon, sein Schatten kurz eine bewegte Schuppe über den Ziegeln.
Als Schröder gegen Mittag in den Hof zurückkehrte, lag das Sonnenrechteck an der falschen Stelle. So ist das mit Rechtecken: Sie tun, was sie wollen, solange niemand sie festnagelt. Minka hatte sich angepasst, als wäre sie ein Schatten, der die Wand mitentschieden hat. Rufus saß da, groß und schwer, und tat, was große und schwere Katzen tun, wenn sie denken: Sie sahen so aus, als dächten sie nicht. Luna übte noch immer das schnelle Atmen, das man braucht, wenn man so tut, als sei man nicht außer Atem.
„Neuigkeiten?“ fragte Minka, ohne aufzusehen.
„Die Stadt schreibt weiter“, sagte Schröder. „Heute mit dünneren Pfoten. Vielleicht sind es die gleichen. Vielleicht andere. Wenn Felllose so viel Freiheit hätten wie wir, würden sie wahrscheinlich darüber reden. Wir machen Kratzer.“
„Kratzer heilen“, sagte Minka. „Manche lassen Linien, die man später lesen kann.“
„Manche entzünden sich“, brummte er. „Und dann muss man sie lecken, und das tut weh.“
Sie sah ihn einen Moment an, und in diesem Blick lag die Anerkennung dafür, dass Dinge gleichzeitig wahr sein können, auch wenn sie nicht zusammenpassen wollen. „Wirst du heute Nacht wieder gehen?“ fragte sie.
„Ich bin noch nie nicht gegangen“, sagte er.
„Dann geh“, sagte sie. „Aber komm zurück. Ich mag es, wenn jemand kommt und mir von den Dächern erzählt. Meine Welt ist warm, aber sie wird größer, wenn du sprichst.“
Schröder nickte. Er würde gehen. Er würde zurückkommen. Zwischen diesen beiden Sätzen lag alles, was eine Katze wissen musste, um nicht den Faden zu verlieren, der die Tage zusammenhielt.
Die Sonne wanderte unaufgeregt weiter. Die alte Felllose holte die Wäsche herein, roch an einem Tuch und lächelte, als hätte sie dort ein altes Lied gefunden. Das Basilikum ließ sich vom Luftzug streicheln, ohne zu wissen, dass er gestreichelt wurde. Und an der Mauer glänzten die Zeichen einen Moment auf, als die Sonne genau richtig stand, um ihnen einen goldenen Rand zu geben, ehe sie wieder so unscheinbar wurden wie eine Schramme im Putz.
„Wach bleiben“, sagte Schröder noch einmal, leise, fast liebevoll, als sei es der Name eines Kätzchens. Dann hob er den Blick, und der Hof hob ihn mit. Über den Dächern zog ein neuer Wind, und er roch – wie immer – nach allem Möglichen. Nach Regen, der vielleicht kommt, nach Wärme, die vielleicht bleibt, und nach einem Weg, der vielleicht schon da ist, wenn man ihn braucht. Er machte sich lang, streckte sich, ließ die Krallen kurz in die Mauer fahren. Dann löste er sie wieder, ohne Spuren zu hinterlassen, die länger waren als nötig.
Freiheit, dachte er, ist manchmal nur das: zu wissen, wann man festhält – und wann man löst. Und wach zu bleiben, wenn jemand am Rand der Nacht eine neue Linie in den Putz zieht.
Er setzte eine Pfote vor die andere, tastend, sicher, und glitt zum Rand hinüber. Unten, auf der Mauer zum Hof, glänzten im schrägen Laternenlicht Kratzzeichen: drei Striche, ein Haken, Punkte. Zu ordentlich, zu sauber, zu sehr wie ein Gedanke mit Kanten. Schröder legte die Ohren an. Revierzeichen waren sonst krumm, ungeduldig, sie sagten: Hier, ich. Diese hier sagten: Wir.
Schröder hob den Kopf. Der Wind brachte Gerüche von weither: trockene Erde, Laugenbrezeln, fremdes Fell, das nicht nach Zuhause roch.
Ein Schatten löste sich von der Dachkante gegenüber und wurde zur Katze. Fauja trat ins blasse Licht, ohne Geräusch, als habe die Nacht selbst sie hergebracht. Ihre Streifen lagen so exakt, als wären sie in das Fell hineingedacht worden. Sie nickte Schröder zu, nicht ehrerbietig, nicht fordernd; eher so, wie man einem alten Baum zunickt, an dem man sich orientiert.
„Du bist wach“, sagte sie.
„Wenn andere schlafen, ist meine Arbeit leichter“, brummte Schröder. Seine Stimme hatte die Rauigkeit von Sand auf Ziegeln. „Und seit einigen Nächten schnarcht die Stadt nicht mehr durch. Sie redet im Schlaf.“
Fauja folgte seinem Blick zu den Zeichen. Sie blieben einen Augenblick stumm, als lauschten sie beide auf dieselben unsichtbaren Fäden, die heute durch alles liefen. Dann sagte sie: „Die Felllosen haben die Hand auf allem, was raschelt. Sie nennen das Fürsorge. Für uns ist es ein Deckel.“
Schröder blinzelte. Er hatte mit verschlossenen Worten gerechnet, mit dem zarten Schubs, den Junge gern geben, wenn sie Ältere provozieren wollen. Doch Fauja sprach wie jemand, der den Deckel gesehen hatte – von unten.
„Die alten Geschichten laufen seit jeher über die Dächer“, antwortete er vorsichtig. „Heute meint jeder Schatten, er sei ein Geheimnis. Morgen ist er nur ein Schatten.“
„Und doch“, sagte Fauja, „machen die Felllosen die Welt klein. Sie fegen uns aus den Vorräumen, fegen uns aus den Kellern, fegen uns aus den Hinterhöfen. Sie nennen es sauber – und meinen: unter Kontrolle. Wir schlafen in Kartons, die uns gehören, bis jemand entscheidet, dass der Karton in den Müll gehört. Sie halten Türen zu und nennen das Sicherheit. Sie rufen uns beim Namen und vergessen, dass wir Namen schon hatten, bevor sie uns riefen.“
Schröder blieb reglos. Die Worte waren keine Rätsel, sie waren Steine. Sie fielen ihm nicht auf den Kopf – noch nicht. Aber er hörte, wie sie auf den Ziegeln rollten.
„Du magst deine Fensterbank,“ fuhr Fauja fort, ohne Spott, nur nüchtern. „Ich nenne das das bequeme Loch in der Wand. Wärme ist schön, Schüsseln sind schön. Aber wenn die Schüssel dich ruft, bevor du Hunger hast – gehört der Hunger noch dir? Wenn die Fensterbank dich hält, wenn der Wind nach Ferne riecht, wem gehört dann dein Weg?“
„Wind riecht jeden Abend nach Ferne“, sagte Schröder. „Und jeden Morgen riecht er nach nassem Hof. Ich nenne das Leben.“
„Ich nenne das Leine ohne Band“, entgegnete Fauja ruhig. „Du spürst sie nicht, solange du nicht ziehst.“
Die Ziegel knirschten leise, als Schröder sein Gewicht verlagerte. In der Ferne ratterte ein Lieferwagen über Kopfsteinpflaster, eine dieser rollenden Futterkisten, wie Luna sie nannte. Ein Rabe saß wie ein Tintenfleck auf einem Kaminsims und sah zu ihnen herüber – der gleiche Rabe, der am Nachmittag die Luft aufgerissen hatte wie Papier.
Schröder schnaufte. „Du sprichst, als hättest du eine Rechnung mit den Felllosen“, sagte er. „Aber morgen früh wird ein Kind dich rufen, und du tust so, als verstündest du es nicht.“
„Ich tue nicht so“, sagte Fauja. „Ich verstehe es. Ich wäge ab. Ich kenne Wärme – und Hunger. Die Hand, die streichelt – und die, die die Kiste schließt. Türen, die schützen – und Türen, die einsperren. Du auch, Schröder. Du bist ein Hofkater ohne festen Napf. Du hast gesehen, wie Freiheit hungrig macht.“
Er legte den Kopf ein wenig schief. Im Licht sah sein Narbenohr aus wie ein umgeknicktes Blatt. „Freiheit“, knurrte er, „hat kalte Stellen. Und nasse. Und Stacheln in den Pfoten. Ich würde sie niemandem wegnehmen. Aber ich würde sie auch nicht verschenken wie ein Stück Fleisch.“
Fauja nickte, als hätte sie genau diese Antwort erwartet. „Es gibt nicht nur zwei Schüsseln“, sagte sie. „Nicht nur warm oder wild. Es gibt Wege zwischen den Wegen. Manche von uns legen sie seit Jahren. Andere glauben, sie wären nur Kratzer im Putz.“
Schröder warf einen Blick hinunter auf die Zeichen. Drei Striche, Haken, Punkte. Wege zwischen Wegen. Er erinnerte sich an eine Nacht, in der die Luft genauso roch: nach Regen, der noch nicht gefallen war. Seine Muskeln spannten sich unwillkürlich, als würde die Erinnerung sich an ihnen festhalten.
„Als ich jung war“, begann er langsam, „gab es eine Katze auf dem Dach der Wäscherei. Sie trug die Jahre im Fell wie Asche. Sie hatte eine Stimme, die nicht laut werden musste. Wir kamen aus allen Ecken, wir Jungen mit den hellen Augen, wir Alten mit den stumpfen. Sie machte solche Zeichen, nur unordentlicher, und flüsterte: Nicht immer in geraden Linien gehen. Sie sprach von Felllosen, die schreiben konnten, ohne Worte zu machen, und von Katzen, die lesen konnten, ohne zu zählen. Sie sagte, es gäbe eine Zeit, in der wir nicht mehr so tun müssten, als wären wir still. Ich habe sie angesehen und gedacht: Vielleicht ist sie verrückt. Vielleicht hat sie Hunger. Vielleicht hat sie recht.“
„Und?“ fragte Fauja leise.
„Sie verschwand“, sagte Schröder. „Ein Mann mit einer Kiste sprach freundlich. Ihre Augen wurden klein wie Stecknadelköpfe, als er das Gitter zuschob. Er roch nach Tierarzt. Seitdem habe ich gelernt, meine Nächte ohne Versprechen zu verbringen.“
Fauja schwieg. Der Rabe krächzte, als räuspere er sich in einer Debatte. Unter ihnen bewegte sich etwas. Drei Schatten, dann zwei, dann drei wieder, als hätten die Ziegel einen Rhythmus.
Aus einer Regenrinne stiegen zwei schlanke Katzen wie aus einer Falte der Nacht. Ihre Bewegungen waren rund, ihre Blicke hart, als hätten sie keins von beidem bemerkt. Sie blieben vor den Zeichen stehen, schnupperten, scharrten, ergänzten einen Punkt. Einer von ihnen trug den Geruch einer Werkstatt: Öl, Eisen, der feine Schmerz von Metallspänen in den Pfotenballen. Der andere roch nach grasiger Ferne und nach Mülltonnen, die nicht immer freundlich sind.
„Heute nicht“, flüsterte der Ölige. Es war kein böses Flüstern, vielmehr die weiche Seite eines Befehls. „Wir warten, bis die Taschen der Felllosen wieder voll sind. Am Markttag. Mehr Taschen, mehr Unordnung.“
„Unordnung ist gut“, antwortete der Grasige, fast andächtig.
Schröder fühlte, wie ein Trockenschnurren zwischen seinem Brustbein und der Zunge stecken blieb. Er hätte herunterfahren, sich zeigen, Fragen sichten können. Doch er blieb, wo er war, ein Stück Dach über manchen Köpfen, und ließ sein Schweigen schwer und sichtbar werden.
„Wird das hier noch geheim bleiben?“ fragte er Fauja.
„Nur so lange, wie die Mauern glauben, niemand liest sie“, sagte sie. „Und so lange, wie die Fensterbänke warm sind.“
Die beiden unten zogen weiter, leiser als die Ratte, die sie zu überhören versuchten. Das Zeichen blieb; es glitzerte im Licht wie etwas, das keine Eile hat.
„Du kannst runtergehen“, sagte Schröder rau zu Fauja. „Du bist jung genug, um Fragen zu stellen, ohne Antworten zu fürchten.“
„Du bist alt genug, um Antworten nicht zu trauen“, entgegnete sie freundlich. „Ich komme nicht, um dich zu bekehren. Ich komme, um dich wach zu halten.“
„Wach bin ich“, brummte er. „Wachen ist mein Handwerk.“
„Dann stell dir nur diese Frage“, sagte sie und trat zurück in den Schatten, der sie fast wieder verschluckte: „Wenn heute Nacht alles ein wenig lauter wirkt – ist es die Gefahr, die wächst, oder nur dein Ohr, das endlich den Takt wiederfindet?“
Sie war weg, und die Nacht schloss sich um die Stelle, an der sie gestanden hatte, als wäre dort nie etwas gewesen. Schröder blieb allein mit seinem Fell, das langsam wieder glatt wurde, und mit der Stadt, die über ihm murmelte wie eine Katze, die träumt und halb weiß, dass sie träumt.
Er ging die Dächer ab, bis sein Körper die Wege nicht mehr dachte, sondern tat. Er sah auf Terrassen, wo leere Stühle warteten, als würden die Menschen nachts irgendwo verhandeln und tagsüber so tun, als wären sie nur müde. Er sah in Fenster, in denen blaue Lichter flimmerten und Gesichter unruhig waren, obwohl die Hände still hielten. Er sah in Hinterhöfe, die in der Dunkelheit größer wirkten, weil Grenzen nachts weich werden. Und überall, wo er hinsah, fand er Kratzzeichen. Nicht nur hier, nicht nur drei Striche, Haken, Punkte. Andere, eiligere, ungeduldige, wieder zurückgestrichene, als hätten zwei Pfoten sich gestritten.
Die Stadt schrieb nachts in ihrer Sprache an die Wände. Und er, Schröder, las wie einer, der nur die Hälfte versteht, aber in der Hälfte den Rest ahnt.
Als die Fühler der Dämmerung in den Himmel stiegen und die Kanten der Häuser milder machten, kehrte er zurück. Der Hof lag da wie ein Napf, der noch nicht gefüllt war. Die alte Felllose würde gleich kommen, mit Wäschekorb und morgendlichem Summen. Minka lag auf der Fensterbank, zusammengekringelt, das Gesicht halb im Vorhang. Rufus war in eine Ecke gerutscht, in der die Wärme von der Steinmauer aufstieg. Und irgendwo, wo sie nicht gesehen werden wollte, schnurrte Luna im Schlaf und übte, schneller hinter einer Feder her zu sein, als die Feder hinter ihr.
Schröder sprang vom Dach in die Nähe der Mauer und landete ohne Laut. Er blieb einen Atemzug stehen, um den Hof nicht zu erschrecken. Dann räusperte er sich, so leise man sich räuspern kann, wenn man eine Katze ist.
Minkas Ohr wippte. Sie löste sich aus der Wärme, gähnte, und die Zunge kam hervor wie eine kleine rosige Fahne. „Guten Morgen, Hof“, murmelte sie, mehr zu sich als zu ihm. Dann sah sie ihn und wurde wach im Blick. „Du siehst aus, als hättest du die Nacht angezogen.“
„Die Nacht passt mir“, sagte Schröder. „Sie weiß, wie man Raum lässt.“
Minka streckte die Vorderpfoten, eine nach der anderen, als würden sie sich erinnern, dass sie Pfoten waren. „Hast du wieder Zeichen gesehen?“ fragte sie, ohne Überheblichkeit, eher als wüsste sie, dass manche Dinge nur in der Nacht erscheinen, weil sie das Tageslicht nicht mögen.
„Zeichen“, sagte Schröder, „und Katzen, die sie lesen. Katzen, die glauben, dass Lesen Handeln ist.“
Minka rutschte ein Stück zur Seite, genug Platz für ihn auf der Fensterbank zu lassen, als wäre das ihre Art, einen Stuhl hinzustellen. Schröder sprang hinauf und spürte unter dem Bauch das alte Holz, das die Sonne gestern gewärmt hatte und das die Nacht nicht ganz hatte auskühlen lassen.
„Fauja war bei mir“, setzte er fort. „Sie redet nicht mehr in Wolken. Sie redet davon, dass die Felllosen die Hand auf der Welt halten wie eine Pfote auf einer Maus. Sie fragt, wem unser Hunger gehört, wenn die Schüssel ruft, bevor wir ihn spüren. Sie sagt: Türen sind nur freundlich, solange du nicht gegen sie drückst.“
Minka legte den Kopf schief. Ihre Augen wurden nicht misstrauisch, sondern weit; sie sah bei solchen Sätzen nicht auf die Worte, sondern durch sie durch, als schaue sie auf das, was dahinter lag.
„Und du?“, fragte sie. „Was hast du geantwortet?“
„Ich habe gesagt: Freiheit hat kalte Stellen“, brummte Schröder. „Und ich habe mich erinnert.“
Er erzählte Minka von der alten Katze auf dem Dach der Wäscherei, von der Nacht, die die Welt dünn gemacht hatte, so dünn, dass man durch sie hindurch die Möglichkeit eines anderen Morgens sah. Er erzählte von der Kiste mit dem Gitter und von der freundlichen Stimme, die eine Lüge war. Er erzählte ohne Dramatik, so wie man einen Stein an den Rand legt, damit man ihn sieht, bevor man stolpert.
Minka hörte zu, ohne einzuhaken, und in ihrem Zuhören lag der Hof: Raum, der nicht drängte, aber da war. Als er fertig war, rieb sie das Kinn an der Kante der Fensterbank, als würden Worte festhängen und sie bräuchte eine Kante, um sie zu lösen.
„Freiheit“, sagte sie leise, „ist für mich manchmal das kleine Rechteck Sonne auf dem Holz. Nicht, weil es klein ist - sondern weil ich mich selbst hineinlege. Nicht, weil eine Hand mich hinsetzt. Ich nenne das mein Freiheitsmoment.“
„Und wenn die Sonne weiterzieht?“ fragte Schröder.
„Dann gehe ich mit“, sagte Minka. „Oder ich bleibe. Die Wahl ist der Teil, der warm ist. Die Sonne ist nur… Gelegenheit.“
„Die Wahl“, wiederholte Schröder, und das Wort schmeckte wie ein Knochen, an dem noch Fleisch ist. „Ein Hofkater hat viele Wahlen. Er wählt jeden Abend einen anderen Wind, er wählt jeden Morgen einen anderen Schatten. Und doch…“ Er sah nach oben, wo der Himmel jetzt die Farbe von kalter Milch hatte. „Und doch wählt man viel, wenn man nichts hat. Wenn man viel hat, wählt man wenig. Vielleicht ist das, was die Felllosen uns geben: wenig Wahl, dafür viele weiche Dinge.“
Minka nickte, als denke sie nicht über ihn nach, sondern mit ihm. „Die alte Felllose da drinnen“, sagte sie, „gibt mir Leckerli, wenn ich so tue, als verstünde ich, was sie sagt. Manchmal tue ich es nicht, und sie gibt mir trotzdem eines, weil ich alt bin und sie denkt, ich werde sonst traurig. Ist das Unfreiheit? Manchmal fühlt es sich an wie…“ Sie suchte ein Wort, fand keins und schnurrte kurz. „Wie gegenseitiges Zähmen.“
„Zähmen ist ein langes Band“, brummte Schröder. „Du hast genug Fell, um es nicht zu spüren. Ich weniger. Und die, die nachts auf den Dächern Zeichen machen, die haben keins, das warm ist. Für sie ist jedes Band eins zu viel.“
„Und was wollen sie?“ fragte Minka. „Fauja – und die schlanken, stillen mit den harten Blicken.“
Schröder hob die Schultern, was bei ihm aussah, als würde ein Haus die Last umverteilen. „Sie sagen nicht was. Sie sagen dass. Dass etwas beginnt. Dass man Türen nicht zu lange ansehen soll, ohne sie zu testen. Dass unser Fell zu weich geworden ist von Handrücken. Ich weiß nicht, ob sie Recht haben. Ich weiß nur: Als ich jung war, war eine Nacht wie diese. Und am Morgen war eine Katze weniger da.“
Die Tür der Wohnung ging auf. Die alte Felllose trat in den Hof mit dem Wäschekorb und dem Summen, das sie auf den Lippen trug wie einen Schal. Sie sah Minka, und ihr Gesicht wurde weich wie Brotteig. Ein Leckerli wanderte auf die Fensterbank, als hätte es dort schon immer gelegen und nur kurz einen Spaziergang gemacht. Minka hob es mit der Selbstverständlichkeit einer Königin auf, die Geschenke nicht ablehnt, weil das unklug ist.
„Wach bleiben“, murmelte Schröder, eher zu sich. „Aber nicht alles glauben, was die Nacht sagt.“
Minka knabberte und sah ihn an. „Wach bleiben“, wiederholte sie, „und sich nicht schämen, wenn man etwas Warmes mag. Ich kann beides.“
Sie schob ihm das zweite Bröckchen hin, das die alte Frau verlegen unter den Vorhang geschoben hatte, als hätten die Jahre ihr einen geheimen Humor geschenkt. Schröder schnupperte daran, als wäre es eine Frage. Dann nahm er es. „Ich kann auch beides“, brummte er. „Ich kann wach sein und essen.“
„Und nachdenken“, ergänzte Minka.
„Nachdenken mache ich nachts“, sagte Schröder und sprang wieder auf die Mauer. „Tagsüber tue ich so, als wäre ich nur Katze. Das beruhigt die Welt.“
„Die Welt ist gern beruhigt“, sagte Minka, „bis sie es nicht mehr ist.“
In der Gasse draußen quietschte ein Fahrrad, und ein Hund bellte einmal, beleidigt, weil die Luft ihm keinen Grund gegeben hatte. Rufus räkelte sich und stieß mit dem Rücken gegen den Eimer, in dem die alte Felllose Basilikum zog; der Eimer klapperte, als hätte er eine Meinung. Luna stürzte aus dem Nichts herbei, großäugig, federleicht. „Habt ihr den Raben gehört?“ rief sie, halb flüsternd, halb trichterlaut. „Er hat gelacht! Also nicht gelacht, aber… ihr wisst schon.“
„Raben lachen nicht“, knurrte Schröder. „Sie kommentieren.“
„Er hat also kommentiert“, sagte Luna sofort. „Wahrscheinlich mich. Ich habe im Traum einen Fisch gefangen, und er war aus Pappe. Ist das ein Zeichen? Sind wir jetzt in einem Zeichenmeer?“
Schröder sah sie an, und etwas in ihm wurde weicher. „Nicht alles ist ein Zeichen, Kätzchen“, sagte er. „Manches ist nur Pappe.“
„Aber vieles ist auch mehr als Pappe“, mischte Minka sich sanft ein. „Das ist das Schwierige.“
Luna sprang auf die Fensterbank und maß mit ihrer Pfote das Sonnenrechteck, das gerade langsam hereinwanderte. „Freiheitsmoment“, sagte sie plötzlich, als hätte sie das Wort irgendwo gehört, aufgeschnappt und jetzt zurechtgelegt. „Wenn die Sonne kommt und ich entscheide, ob ich mitschwimme.“
„Mit der Sonne kann man nicht schwimmen“, belehrte Rufus, der inzwischen wach war und seine Würde sortierte. „Man kann nur so tun, als sei man zufällig dort, wo sie ist. Alles andere sieht bedürftig aus.“
Minka schnurrte. „Bedürftig sein ist keine Schande“, sagte sie. „Aber es ist gefährlich, wenn man es vergisst.“
Schröder blickte zum Himmel. Die Laternen waren jetzt aus, und die Wolken sahen aus wie zusammengerollte Katzen in einer sehr großen Schüssel. Die Kratzzeichen auf der Mauer wirkten im Tageslicht kleiner, harmloser, ein bisschen wie Spiel. Doch er wusste, dass manche Dinge bei Sonne schrumpfen, ohne aufzuhören zu wachsen.
„Hör zu, Minka“, sagte er dann, leiser, nur für sie. „Es wird mehr werden. Mehr Zeichen, mehr Stimmen, mehr… Bewegungen. Du magst deine Rituale. Ich mag meine Runden. Beides steht auf einer Waage, die keiner von uns sieht. Wenn einer anfängt, Gewichte zu verschieben, wackelt der Napf. Und die Schüsseln fallen schnell.“
Minka antwortete nicht sofort. Sie sah auf ihre Pfote, in deren Fell ein Sonnenfaden hängen geblieben war, als sei er dort zu Besuch. „Wenn die Schüssel fällt“, sagte sie schließlich, „kann man entweder unter ihr begraben werden – oder man trinkt die Milch, die ausläuft. Vielleicht ist das Freiheit: schnell genug zu sein, um zu trinken, ohne zu treten.“
„Schnell genug, ohne zu treten“, wiederholte Schröder, und das gefiel ihm, auch wenn er das nicht zeigte. „Und vorsichtig genug, um sich nicht die Schnurrhaare zu verkleben.“
„Das passiert nur einmal“, sagte Minka trocken. „Dann lernt man.“
Die alte Felllose klatschte in die Hände und lachte über etwas, das das Radio gesagt hatte. Das Lachen blieb einen Atemzug im Hof hängen, ehe es in die Ritzen kroch, wo es wie warmer Dampf weiterwehte. Der Basilikum roch nach Sommer, obwohl ein Wind von der Straßenseite her schon die ersten frühen Blätter aufscheuchte, die vorgaben, sie hätten sich nur verirrt.
„Ich gehe nochmal rauf“, brummte Schröder und sprang auf die Mauerkrone. „Wenn die Nacht dir eine Frage stellt, brauchst du den Tag, um sie zu verstehen. Und manchmal stellt der Tag die gleiche Frage anders.“
„Bring mir eine Antwort mit, wenn du eine findest“, sagte Minka. „Und wenn du keine findest, bring mir die Frage. Ich lege sie auf die Fensterbank. Manches wird beim Liegen freundlich.“
Er schnippte ihr mit dem Schwanz gegen die Schulter – die Katze-Version eines Lächelns – und verschwand, ein Schatten, der wieder zu den Schatten zurückfand. Oben auf den Dächern blieb die Kühle länger als unten, und die Ziegel fühlten sich unter seinen Pfoten an wie Bücher, die niemand laut vorliest. Er umrundete zwei Schornsteine, schnupperte an einem Rinnstein, in dem ein Käfer langsam einen See überquerte, der für andere nur ein Tropfen war.
Er fand neue Zeichen, dünner, gedrängter – als hätte eine jüngere Pfote weniger Geduld gehabt. Er fand alte, überkratzte – als hätte eine ältere Pfote bereut. Er fand an einer abgebröckelten Stelle ein Stück Kreide, weiß, wie es die Felllosen ihren Kindern geben, damit sie auf Asphalt Wolken malen, die man wegfegen kann. Jemand hatte versucht, Kreidezeichen zu machen, und aufgegeben, weil Kreide die falsche Sprache ist, wenn man Pfoten hat.
Auf einem der höheren Dächer saß der Rabe wieder und sah aus, als gehörte ihm ein Stück der Aussicht. „Krah“, sagte er, was auf Rabisch alle Fragen und die meisten Antworten abdeckte.
„Krah“, sagte Schröder zurück, der es nicht mochte, unhöflich zu sein. Der Rabe neigte den Kopf, als würdige er die Mühe, und flog davon, sein Schatten kurz eine bewegte Schuppe über den Ziegeln.
Als Schröder gegen Mittag in den Hof zurückkehrte, lag das Sonnenrechteck an der falschen Stelle. So ist das mit Rechtecken: Sie tun, was sie wollen, solange niemand sie festnagelt. Minka hatte sich angepasst, als wäre sie ein Schatten, der die Wand mitentschieden hat. Rufus saß da, groß und schwer, und tat, was große und schwere Katzen tun, wenn sie denken: Sie sahen so aus, als dächten sie nicht. Luna übte noch immer das schnelle Atmen, das man braucht, wenn man so tut, als sei man nicht außer Atem.
„Neuigkeiten?“ fragte Minka, ohne aufzusehen.
„Die Stadt schreibt weiter“, sagte Schröder. „Heute mit dünneren Pfoten. Vielleicht sind es die gleichen. Vielleicht andere. Wenn Felllose so viel Freiheit hätten wie wir, würden sie wahrscheinlich darüber reden. Wir machen Kratzer.“
„Kratzer heilen“, sagte Minka. „Manche lassen Linien, die man später lesen kann.“
„Manche entzünden sich“, brummte er. „Und dann muss man sie lecken, und das tut weh.“
Sie sah ihn einen Moment an, und in diesem Blick lag die Anerkennung dafür, dass Dinge gleichzeitig wahr sein können, auch wenn sie nicht zusammenpassen wollen. „Wirst du heute Nacht wieder gehen?“ fragte sie.
„Ich bin noch nie nicht gegangen“, sagte er.
„Dann geh“, sagte sie. „Aber komm zurück. Ich mag es, wenn jemand kommt und mir von den Dächern erzählt. Meine Welt ist warm, aber sie wird größer, wenn du sprichst.“
Schröder nickte. Er würde gehen. Er würde zurückkommen. Zwischen diesen beiden Sätzen lag alles, was eine Katze wissen musste, um nicht den Faden zu verlieren, der die Tage zusammenhielt.
Die Sonne wanderte unaufgeregt weiter. Die alte Felllose holte die Wäsche herein, roch an einem Tuch und lächelte, als hätte sie dort ein altes Lied gefunden. Das Basilikum ließ sich vom Luftzug streicheln, ohne zu wissen, dass er gestreichelt wurde. Und an der Mauer glänzten die Zeichen einen Moment auf, als die Sonne genau richtig stand, um ihnen einen goldenen Rand zu geben, ehe sie wieder so unscheinbar wurden wie eine Schramme im Putz.
„Wach bleiben“, sagte Schröder noch einmal, leise, fast liebevoll, als sei es der Name eines Kätzchens. Dann hob er den Blick, und der Hof hob ihn mit. Über den Dächern zog ein neuer Wind, und er roch – wie immer – nach allem Möglichen. Nach Regen, der vielleicht kommt, nach Wärme, die vielleicht bleibt, und nach einem Weg, der vielleicht schon da ist, wenn man ihn braucht. Er machte sich lang, streckte sich, ließ die Krallen kurz in die Mauer fahren. Dann löste er sie wieder, ohne Spuren zu hinterlassen, die länger waren als nötig.
Freiheit, dachte er, ist manchmal nur das: zu wissen, wann man festhält – und wann man löst. Und wach zu bleiben, wenn jemand am Rand der Nacht eine neue Linie in den Putz zieht.